"The World vs. Boris Becker": Der Tennisstar als Dr. Jekyll & Mr. Hyde
Ab dem 7. April startet die Doku "Boom! Boom! The World vs. Boris Becker" bei AppleTV+. Welche neuen Einblicke kann sie über das Wirken der Tennislegende bieten?
"Wie schwer ist es für einen so jungen Mann, in Kontakt mit der Realität zu bleiben?" Diese Frage stellten sich Reporter im Jahr 1985, als ein international unbeschriebenes Tennis-Blatt aus Leimen, Deutschland, plötzlich Wimbledon eroberte. Die neue zweiteilige AppleTV+-Doku "Boom! Boom! The World vs. Boris Becker" (ab 7. April) über den Ausnahmesportler widmet sich dessen beispiellosem Aufstieg zur Nummer eins der ATP-Weltrangliste.
Sie wirft im Rahmen der Verurteilung Beckers wegen Insolvenzverschleppung im Jahr 2022 aber auch die Überlegung auf, ob Becker mit inzwischen 55 Jahren den vermeintlich verlorenen Kontakt zur Realität nie so wirklich wiederherstellen konnte. Mit einer dualen Erzählstruktur und aufgeteilt in die beiden Abschnitte "Triumph" und "Disaster" beleuchtet die Doku das augenscheinlich stets zwischen Extremen pendelnde Leben ihres Protagonisten. Dabei kommt viel Dr. Jekyll zum Vorschein - aber hin und wieder auch Mr. Hyde.
In einem Alter, in dem normale Jugendliche Panikattacken wegen der Berganfahrt in der Fahrschule haben, stand Becker mit 17 auf dem Centre Court von Wimbledon im Finalspiel gegen Routinier Kevin Curren - und triumphierte als erster Deutscher und als jüngster Spieler überhaupt. Den Legendenstatus sicherte er sich spätestens, als er im Folgejahr den Titel gar zu verteidigen wusste.
Der erste Part der Doku mit dem Untertitel "Triumph" widmet sich mit wenigen Ausnahmen, in denen die Gegenwart thematisiert wird, der schillernden Vergangenheit von Becker - die klassische Heldenreise eines Underdogs. Sie liefert aber auch die Basis für den zweiten Teil namens "Disaster", in dem ultimativ die Verurteilung wegen Insolvenzverschleppung zur Sprache kommt. Denn sich unbesiegbar zu fühlen, wie es Becker in seiner Höchstform tat, öffnete auch Tür und Tor für Übermut - zunächst auf, später abseits des Tennisplatzes.
Teil zwei hält einen lange hin
Jedoch nimmt sich "Disaster" hierfür einiges an Zeit. Entgegen des Untertitels beschäftigt sich auch der mit fast zwei Stunden deutlich längere Teil der Doku zunächst mit Beckers Tennis-Erfolgen. Ans Eingemachte geht es eigentlich erst in den finalen 45 Minuten, in denen größtenteils Finanzen und Familie beleuchtet werden.
Die Trennung von seiner ersten Ehefrau Barbara Becker (56)? Zu der sei es nicht primär wegen seines Seitensprungs mit Angela Ermakova (55) gekommen, sondern wegen Barbaras Verhalten danach: "Bei jeder Diskussion zog sie diesen Joker und sagte, ich solle die Klappe halten: 'Denn wenn die Welt wüsste, was du getan hast, würdest du ohnehin verlieren.'" Er habe erwidert: "Du hast Recht, aber das ist nicht die Art von Beziehung, die ich führen kann. Das ist unmöglich. Ich sagte: 'Barbara, ich glaube, wir brauchen eine Pause."
Die Umstände, wegen der Becker ins Fadenkreuz der britischen Behörden landete? "Ich mache mich dafür verantwortlich", sagt Becker. Er deutet zugleich aber auch an, dass es aus seiner Sicht diverse Menschen gibt, die wohl mindestens ebenso viel Schuld an seiner Misere trifft. Beckers ikonischer Ex-Trainer Ion Tiriac (83) fasst es an einer Stelle der Doku pragmatisch zusammen: "Der Junge wollte spielen" - er spricht in diesem Moment aber nicht vom Tennisplatz, sondern vom Geldmarkt. Und dort wimmle es nun einmal vor Menschen, die einem nur vorsätzlich etwas Gutes wünschen.
Fazit:
Auf dem Papier ist "Boom! Boom! The World vs. Boris Becker" zweigeteilt in Aufstieg und Fall der Tennis-Größe. In der Realität widmet sich die Doku von Alex Gibney (69) aber zu einem Großteil dann doch der beachtlichen Karriere seines Protagonisten - ob als Spieler oder später als Trainer. Vermeintlich brisant sind die finalen Minuten von insgesamt dreieinhalb Stunden Material, in der tatsächlich Beckers Insolvenz besprochen wird - jedoch vornehmlich aus der Sicht von Becker selbst.
Die vorzeitige Haftentlassung Ende des vergangenen Jahres gab ihm jedoch bereits mehrfach die Möglichkeit, zu diesem heiklen Thema seine Sicht der Dinge zu schildern. Eine große und vor allem neue Erkenntnis vermag folglich "Boom! Boom! The World vs. Boris Becker" nicht zu bieten.